Fliegen wie ein Adler – Gleitschirme machens möglich
Mit einem «Happy Landing» verabschieden sich Gleitschirmfliegende beim Start. Denn die Landung ist nebst dem Abflug der zweite entscheidende, gelegentlich kritische Moment. Dazwischen: Genuss und Freiheit, spektakuläre Aussichten, Begegnungen mit einem Adler – reines Glück! Das gibts auch im Emmental.

Der Wunsch, zu fliegen wie ein Vogel, ist ein uralter Traum des Menschen, und mit unseren Gleitschirmen können wir uns tatsächlich in die Lüfte schwingen. Gerade auch im Emmental, denn hier herrschen oft günstige Luft- und Thermikverhältnisse», das erzählt mir Fritz Fankhauser, der Präsident des Gleitschirmclubs Emmental (GCE). Als Versicherungsberater ent-spricht er nicht gerade dem Bild, das ich mir von jemandem mache, der Gleitschirmfliegen als Hobby hat. Aber schon beim ersten Anruf merke ich: Dieser «Herr Fankhauser» ist ein cooler Typ, wir sind bald per Du. «‹Fidu› heisse ich seit jeher», begrüsst er mich beim Besuch auf seiner Agentur in Langnau.
Das Gleitschirmfieber erreicht das Emmental
Mit ansteckender Begeisterung schildert er mir die Geschichte des GCE, der 1992 gegründet wurde: 20 Interessenten, die den faszinierenden Sport bereits individuell pflegten, schlossen sich zu einem Club zusammen, inzwischen sind es rund 100 Mitglieder. Die meisten – knapp ein Fünftel davon Frauen – sind über 40 Jahre alt und gehen unterschiedlichen Berufen nach: Handwerker, Lehrer, Bauer, Pfarrer, Kindergärtnerin, Unternehmer – die Begeisterung für das Gleitschirmfliegen verbindet sie. Bloss die Jugend fehle etwas, bedauert Fidu.
Der «Bisehoger» – Hotspot des GCE
760 Meter über Meer liegt die Homebase des Clubs: Der Grat über dem Weiler Rüti oberhalb von Hasle-Rüegsau bietet zwei bis drei Pilotinnen und Piloten Platz für die Startvorbereitungen. «Bisehoger» heisst er clubintern, denn hangaufwärts weht hier der Nordost-Wind: perfekte Bedingungen für den Start – vorausgesetzt, der Bisluft ist nicht zu schwach oder «chutet» zu kräftig. «Aber», so Fidu, «für Anfängerinnen und Anfänger ist das Startgelände nicht geeignet!» Denn unterhalb des Startplatzes befinden sich ein Bauernhaus und Bäume, welche Turbulenzen erzeugen können – da braucht es schon Erfahrung. Zudem: «Unten im Tal liegt ein Schiessstand. Bei Schiessbetrieb gilt ein absolutes Flugverbot in nördlicher Richtung. Der überwachte Luftraum um den nahen Flughafen Bern-Belp hat eine Untergrenze – höher als 17 100 Meter dürfen wir deshalb nicht fliegen. Die Luftraumbeobachtung ist also besonders wichtig», betont mein Gesprächspartner, «und dann teilen wir den Hang auch mit Modellfliegern.» So gehört es zur seriösen Flugvorbereitung, nebst dem Studium der Wetter- und Windprognosen, sich genau über die erwähnten Rahmenbedingungen zu informieren.

Hügel und Täler, Wälder und Einzelhöfe – die Berner Alpen im Hintergrund: einfach spektakulär, das Emmental!
Der Gleitschirm – ein Fluggerät mit einem ausgeklügelten System
«Der Gleitschirm ist das einzige Fluggerät, das ganz ohne Gestänge auskommt und komplett aus Textilien gefertigt ist», erzählt Fidu, «bloss drei bis fünf Kilogramm wiegen moderne Hochleistungsschirme. Leinen und Traggurten gehören dazu. Und ein Rettungsfallschirm. Die Pilotin oder der Pilot sitzt im Gurtzeug an den Leinen. Mit zwei Leinen (Bremsen) links und rechts kann der Gleitschirm gesteuert oder bei der Landung abgebremst werden.» Die Schirmkappe ist, im Gegensatz zum runden Fallschirm, eher rechteckig, «Matratze» wurde sie deshalb früher genannt. Im Querschnitt hat die Kappe die Form eines Flügelprofils: vorne dick, hinten dünn auslaufend und zusammengenäht. Zudem ist sie in mehrere Kammern in Längsrichtung eingeteilt, die vorne offen sind. Beim Aufziehen des Schirmes beim Start gegen den Wind füllen sich diese Kammern mit Luft, der entstehende Druck versteift die Kappe. Der Schirm erhält dadurch ein Flügelprofil, das Auftrieb erzeugt.
Zwischen 22 und 55 Kilometer pro Stunde schnell fliegen Gleitschirme im Schnitt, Wettkampfschirme gar bis 75 Kilometer pro Stunde. Anders als Fallschirmspringende, die bloss nach unten segeln, können Gleitschirmfliegende auch aufwärts fliegen: Wenn sie mit Wind und Thermik spielen, gewinnen sie nach dem Start bald an Höhe. Möglich sind so Flüge von mehreren Stunden und Distanzen von einigen Hundert Kilometern.
Spiel mit dem Adler – und Flug mit der Rega
Gewaltig kanns hinaufgehen: Nach dem Start an einem «Hike and Fly» bei Stechelberg im Berner Oberland konnte Fidu gar über die Jungfrau fliegen, wie er zu erzählen weiss. Dabei «spielte» er mit einem Adler, der ihn eine Zeit lang begleitete, seine Manöver verfolgte und mitmachte: «Das ist natürlich eine Hammergeschichte!»
René Affolter, Gleitschirmflieger seit 40 Jahren, erzählt mir, dass auch vom «Bisehoger» aus lange Free-Distance-Flüge möglich seien. Er erwähnt einen Flug, der über die Freiburger Alpen via Bulle und Châtel-Saint-Denis nach Romont führte! Es muss aber nicht immer um Leistung gehen: René Affolter berichtet von seinem Flug am 12. April diesen Jahres, als er vom «Winter» beim Start auf Grindelwald First nach drei Stunden im 36 Kilometer entfernten Steffisburg im «Frühling» landete – wunderbare Emotionen, schwärmt er von seinem 3378. Flug.
Ganz ähnlich sieht es Sandra Matter, eine der wenigen Frauen im Club: Sie, die vor Jahren stets auf den Kick nach einem neuen Distanzrekord aus war, nimmt es heute entspannter. 170, 180 Kilometer sind ihre Bestleistungen, Schweizer Meisterin war sie gar. Doch das ist gut zehn Jahre her. Aber: Gleitschirmfliegen gehört einfach zu ihrem Leben – über 3000 absolvierte Flüge beweisen es. Viele Begegnungen mit unterschiedlichsten Menschen auf oft ungeplanten Landeplätzen nach Distanzflügen zählen für sie zu den schönsten Erinnerungen. Genau geplant aber war ihre Landung im Choserfeld in Burgdorf: Dort wirkt sie als Kindergärtnerin und wollte ihren Kindern einmal ihr Hobby zeigen.

Am Startplatz auf dem «Bisehoger» – mit Aufwind über das Bauernhaus, das sich etwas weiter unten befindet.
Wie bei Ikarus: Gelegentlich gibts auch Unfälle
Dädalus, Held aus der griechischen Mythologie und Vater von Ikarus, klebte seinem Sohn mit Wachs Flügel an ein Fluggestell … der Traum vom Fliegen wurde wahr! Doch Ikarus wollte zu hoch hinaus, kam der Sonne zu nahe, das Wachs schmolz, die Federn lösten sich – der Absturz war unvermeidlich. So wurde der Ikarus-Mythos zum Symbol für den Übermut des Menschen, den die Götter bestrafen.
Nicht gerade eine Strafe wegen Übermuts erfuhr René Affolter bei einem anderen Flug mit Start auf der Marbach-Egg – aber auch sein Abenteuer endete unglücklich. Trotz sorgfältiger Vorbereitung verhakten sich aus unerfindlichen Gründen die Leinen kurz nach dem Start, der Schirm war nicht mehr steuerbar, eine «Bruchlandung» im steilen Gelände nicht zu vermeiden – und ein Flug mit dem Rega-Helikopter die Folge: Trümmerbruch im linken Fuss und zwei gebrochene Wirbel die Diagnose. Seine ungebrochene Faszination fürs Gleitschirmfliegen führte jedoch dazu, dass er noch im selben Jahr zum nächsten Flug startete. Vom «Bisehoger», vorsichtig – und nach noch genauerer Kontrolle der Leinen! «Gleitschirmfliegen ist fast wie eine Sucht», schmunzelt er.
Plausch (Soaring) und Wettkampf
«Hike and Fly» (Wandern und Fliegen), davon schwärmt Fidu, die Augen strahlen: «Nach einem schweisstreibenden Aufstieg zum Gipfel über schmale Bergpfade, Gleitschirm und Verpflegung im Rucksack, wirst du auf dem Weg zurück ins Tal mit einem unvergleichlichen Flugerlebnis belohnt, einfach geil!» Wettkampfformen existieren ebenfalls: Streckenfliegen, Punktlanden oder Akrobatikfliegen. Aber er sei nicht so der Wettkampftyp, meint der erfahrene Pilot: «Ich geniesse das reine Fliegen, das Gefühl des Schwebens, suche Rauch aus Kaminen, der mir die Windrichtung andeutet, oder ich beobachte, wo die Greifvögel ohne Flügelschlag ihre Kreise drehen: Dort muss gute Thermik herrschen, mit der ich weiter Höhe gewinnen kann.»
Hochbetrieb auf dem «Bisehoger»
Samstagvormittag, schönes Wetter, gute Bise: Die Pilotinnen und Piloten treffen auf dem Starplatz ein, lange mussten sie warten auf ideale Flugbedingungen. Erfahrungsaustausch, ein Hallo hier, ein Hallo da, und dann bereiten sich alle individuell auf ihren Flug vor, ruhig und konzentriert: Gurtzeug anziehen, Helm und Sonnenbrille sichern, Schirm ausbreiten, Leinen prüfen, digitales Display anbringen, Gleitschirm mit den Karabinerhaken verbinden, Handschuhe festziehen, ein letzter Blick talwärts zu den flatternden Stoffstreifen, den Windspionen, Schirm aufziehen, losrennen – und dann beginnt der Flug. Der dynamische Wind ist perfekt, sofort gewinnt Fidu an Höhe, fliegt … frei wie ein Vogel. Der Traum wird wahr
Text: Werner Eichenberger
Bilder: Othmar Marti, René Affolter, Werner Eichenberger
Gleitschirmclub Emmental
Weitere Infos gibts auf der Website des Gleitschirmclubs Emmental: www.gcemmental.ch
Möchten Sie selbst auch einmal fliegen wie ein Vogel? Der Club bietet Schnuppertage mit Tandemflügen an – nehmen Sie einfach Kontakt auf mit dem Präsidenten Fritz Fankhauser:
praesi@gcemmental.ch