Hier geben die Zithern den Ton an
In Trachselwald betreibt Lorenz Mühlemann das Schweizer Zither-Kulturzentrum – das einzige Museum dieser Art in unserem Land. Mehr als 110 einmalige Instrumente dokumentieren die über 400-jährige Geschichte der Zither-Kultur. Beeindruckend und spannend, überraschend und profund. Ein Besuch.
Von Grünenmatt her fahre ich Richtung Trachselwald. Von hoch oben grüsst das mächtige Schloss. In dessen Gutshof hat Jeremias Gotthelf seinerzeit eine Knabenerziehungsanstalt gegründet. Bald erscheint die barocke Kirche mit ihrem charakteristischen Turm. Oben die weltliche Macht, unten die geistliche. Ich fahre zur «Tanne», der Parkplatz ist leer, ebenso der altehrwürdige Gasthof. Geschlossen seit Jahren, ein Opfer des Beizensterbens auf dem Land. Eine schwarze Katze überquert die Strasse, ein Hund bellt irgendwo. Friedliche Stille sonst im Dorf.
Der «Tanne» schräg gegenüber liegt sie: die alte, 1614 erbaute Amtsschaffnerei, ein weiss getünchter, prächtiger Bau im Spätrenaissancestil. Auch unten im Dorf demonstrierten die Gnädigen Herren von Bern und die Landvögte ihre Macht. 2003 hat hier das Zither-Kulturzentrum seine Heimat gefunden.
Eine Klingel gibt es keine, aber ein mächtiger Klopfer schmückt die schwere Holztüre. Dreimal schlage ich ihn an. Nichts passiert. Doch dann kommt er: Lorenz Mühlemann, der Hausherr, gut gelaunt, chic, Ton in Ton gekleidet, die grauen Haare munter frisiert. Und ohne Bart, wie ich ihn von früheren Begegnungen kenne. «Du hättest einfach hereinkommen und rufen können», begrüsst er mich herzlich, «eine Klingel hat es nicht!»
Das Museum mit der schweizweit einzigen Sammlung vielfältiger Zithern.
Der Gang durchs Museum
Durch den Korridor folge ich ihm ins Museum. Überrascht stelle ich im Halbdunkel fest: Er hat ja schon Besuch! Aber nein, der Mann, am Tisch mit der grossen Zither sitzend, ist bloss die Figur eines Musikautomaten. «Er funktioniert leider nicht mehr», beantwortet Mühlemann meine Frage, bevor ich sie stellen kann, «vielleicht finde ich einmal Zeit, ihn wieder in Gang zu setzen.» Er zeigt mir das Lager mit unzähligen Instrumentenkoffern: in raumhohen Gestellen aufeinanderliegend, in unterschiedlichen Formen und Grössen, oft etwas beschädigt und abgewetzt, Zeugen einer langen Geschichte. In der kleinen Werkstatt repariert Mühlemann defekte Instrumente, restauriert er alte Zithern mit Sorgfalt, Geschick und Geduld, mit Liebe zum Detail und grosser Sachkenntnis. Bringt sie wieder zum Klingen.
Die Museumsräume: hell, lichtdurchflutet dank grossen Fenstern, warmer Holzboden und viel Platz. Unzählige Instrumente, Fotos und historische Werbeplakate an den Wänden, in den Vitrinen Saiten, Stimmgeräte, Zitherringe, Notenblätter. Was für ein Reichtum!
Der Klang der wundersamenInstrumente
Auf der Website des Museums habe ich mich eingelesen, weiss bereits einiges – aber klar, jetzt muss mir Mühlemann die wichtigsten Instrumente vorspielen. Etwas skeptisch bin ich schon: Als Jazzfan und Gitarrist einer Amateur-Swingformation habe ich es nicht so mit der Volksmusik. Aber kaum erklingen die ersten Töne auf dem «Häxeschit», bin ich hin und weg. Dieser leicht scherbelnde Klang, dieser eigenartige Sound, diese Melodien: Spüre ich da eine Verwandtschaft mit archaischem Blues aus dem Mississippi-Delta? Ein längliches Stück Holz, unten ausgehöhlt, gleicht es einem schmalen Kästchen. Es bildet den Resonanzkörper, ist mit wenigen Saiten bespannt: das «Häxeschit», die Mutter aller Zithern.
Die «Hanottere»: Diesem uremmentalischen Instrument, ähnlich einer Mandoline, mit seinem meist tropfenförmigen Korpus gehört definitiv Mühlemanns grosse Liebe. Als Vorbereitung auf meinen Besuch habe ich mir eine seiner CDs genau angehört. Jetzt erst verstehe ich die Musik richtig, begreife ich Mühlemanns Begeisterung für die alte Emmentaler Halszither. Auf vielen Bauernhöfen war sie früher anzutreffen, hergestellt von lokalen Meistern, etwa aus Dürrenroth, Lauperswil oder Signau – individuell gestaltet, das Schallloch reich verziert, kunstvolle Figuren am Wirbelschiffchen. «Schon Gotthelf hat das Instrument erwähnt», weiss Mühlemann. Ja, im Roman «Uli der Knecht» lesen wir im Zusammenhang mit der «Sichlete», dem Erntedankfest: Nach dem Einbringen der Ernte wurde oft bis gegen Mitternacht getanzt, gespielt und gesungen im Grase oder in der Tenne. «Unter den Helfern war immer einer, der ein Tänzlein hat pfeifen können», erzählt Joggeli, der Glunggen-Bauer, «und nicht selten haben die Schnitter neben der Sense eine Geige mitgebracht oder eine Zither.»
Volle Konzentration beim Spiel der Akkordzither nach «Ablaufdiagramm».
Gefühlvoll klingt die Akkordzither
«Die Akkordzither liegt vor dir, sie sieht dich an. Spielen kannst du sie, auch ohne Notenkenntnisse.» So stellt mir Mühlemann mit einer ausladenden Geste die dritte Gruppe seiner Instrumente vor. Und er weiss Spannendes zu erzählen: 1885 erfunden, gibt es sie in den unterschiedlichsten Formen: eckige, geschweifte, asymmetrische, an Harfen erinnernde, solche, die mit einem Bogen gespielt werden, mechanische, mit und ohne Griffbrett. Unerschöpflich scheint die Kreativität der Zitherbauer gewesen zu sein. Industriell produziert und millionenfach hergestellt, eroberte die Zither nach 1885 rasch den ganzen Globus. Wurde zum weltumspannenden, völkerverbindenden Instrument der Hausmusik: Ein altes Werbeplakat der deutschen Firma Kosmos mit ihrer «Grunert’s Accord Zither» beweist es. Dem Cover eines Karl-May-Bandes ähnelnd, zeigt es Indianer, Araber, Chinesen, staunend um einen weissen Cowboy stehend, der eine Zither spielt. «Das war Globalisierung vor 150 Jahren, als noch niemand den Begriff kannte», lacht Mühlemann. Viel von der Geschichte dieser einzigartigen Instrumente ging vergessen oder verloren. Gerettet, gesammelt und dokumentiert hat sie nun Lorenz Mühlemann.
Die Akkordzither hat kein Griffbrett. Zweiteilig ist sie aufgebaut: Rechts sind bis zu 40 Saiten chromatisch aufgespannt, der Tonleiter nach, mit allen Halbtonschritten – damit spielt man mit der rechten Hand die Melodie, einzeln angezupft mit dem Zitherring am Daumen, ähnlich einem Plektrum. Links befinden sich mehrere Gruppen von Saiten, jeweils in sich so gestimmt, dass beim Darüberfahren mit dem Zitherring ein Dreiklang ertönt. Damit wird die Melodie akkordisch begleitet, wie dies etwa eine Gitarre beim Singen tut.
Grafisches «Ablaufdiagramm» statt klassische Notenschrift
«Warum kann man sie spielen, ohne Noten lesen zu können?», will ich wissen. «Weil es für jedes Lied zwar ein ‹Notenblatt› gibt, aber nicht in klassischer Notenschrift – sondern eher als eine Art ‹Ablaufdiagramm›. Du legst es unter die Saiten und folgst mit dem Zitherring Ton für Ton, fährst von Punkt zu Punkt, entlang den Linien, von oben nach unten, hin und her, quer über alle Saiten. Ganz einfach geht das.» Einzig die Notenlänge, der Rhythmus, sei etwas schwieriger zu finden. Das Erlernen der Grundzüge gehe verblüffend leicht, ergänzt Mühlemann, aber der Weg zum gestalteten Musikstück setze auch hier gewissenhaftes Üben voraus. «In einer Stunde zu erlernen!» – dieser ultimative Slogan auf einem älteren Inserat sei zwar ein cleverer Werbespruch, fügt er an, aber doch nicht ganz realistisch.
Auch zur Akkordzither habe ich Mühlemanns CD angehört. Sanft klingen fast alle Melodien, etwas melancholisch kommen sie mir vor, schwermütig – und meist getragen. «Mag sein, ich würde aber eher ‹gefühlvoll› sagen», antwortet er und ergänzt: «Rassige, schnelle Lieder lässt das Instrument mit seiner Bauart tatsächlich nicht so einfach zu.» Und das würde vielleicht auch nicht zu den eher behäbigen Emmentalern passen, füge ich in Gedanken an.
Auf meinen Wunsch hin spielt er das «Munotglöcklein». Wenn Sie – wie Lorenz Mühlemann und ich – auch schon ein paar graue Haare haben, kennen Sie diese Melodie: Als es auf «Radio Beromünster», dem Vorläufer von SRF, um die Mittagszeit noch die «Gratulationen» gab, war dieses Lied ein Dauerbrenner: «Heute feiert bei geistiger und körperlicher Frische Frau Susanne Muster ihren 90. Geburtstag. Wir gratulieren ihr herzlich und spielen für sie auf ihren Wunsch das ‹Munotglöcklein›.» So und ähnlich hiess es damals regelmässig. Danke, Lorenz, für dieses kleine Konzert.
«Freischaffender Zitherer»: Ein Leben für und mit «Hanottere» und Zither
Seit er ein Seminarist war, begleitet die Zither sein Leben. «Freischaffender Zitherer» nennt sich Lorenz Mühlemann augenzwinkernd. Das Zither-Kulturzentrum ist sein Lebenswerk – und mehr als bloss ein Museum: Musikschule ist es auch, Seminar, Kurszentrum, Archiv, Reparaturwerkstätte, Beratungsstelle, Konzertsaal. Mühlemanns Credo lautet: Sammeln, Restaurieren, Spielen, Unterrichten, Forschen, Dokumentieren, Archivieren, Konzertieren … Komponist ist er ebenfalls. Und Autor von Fachbüchern. Eines davon schenkt er mir zum Abschied: «Die Zither, ein Instrument der Volks-, Kunst- und Hausmusik». Der grossformatige Band erklärt auf über 350 reich bebilderten Seiten alles, was Mühlemann im Rahmen seiner Forschungen entdeckt hat. Ein wahrer Schatz! Eine weitere CD erwerbe ich mir zudem. Als ich sie zu Hause anspiele, versetzen mich die zauberhaften Klänge der «Hanottere» mit einem traditionellen «Walzer aus dem Emmental» zurück in die Vergangenheit, tief ins Emmental. Ich greife zu meiner akustischen Gitarre, höre bald die Tonart heraus, erkenne die vierteilige Struktur des Walzers und kann ihn, nach einigem Pröbeln, begleiten. Wunderbar – die Welt der Zither hat sich mir endgültig eröffnet!
Text: Werner Eichenberger
Bilder: Marco Meneghini, Lorenz Mühlemann
Möchten Sie wissen, wie es tönt, wenn Lorenz Mühlemann seinen Instrumenten harmonische Klänge entlockt? Dann schauen Sie sich Werner
Eichenbergers Video «Lorenz Mühlemann und seine Zithern» auf YouTube an:
Führungen mit Konzert
Öffentliche Sonntagsführungen im Museum mit Konzert 2025 (keine Anmeldung erforderlich):
2.2. / 2.3. / 6.4. / 4.5. / 1.6. / 7.9. / 5.10. / 2.11. und 7.12.
Infos unter: www.zither.ch.