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Der Mann fürs Feine

Späne fliegen durch die Luft. Die Umgebung vibriert unter dem Geheul der Motorsäge. Scharfe Messer schälen sich ins weiche Holz, setzen Duftnoten von Fichte und Lärche frei, erwecken eine Wolke aus Staub und Wohlgefühl rund um den Mann mit den starken Armen. Ein zufriedenes Grinsen macht sich auf seinem Gesicht breit: Das Häsli ist zum Greifen nah.

Toni Flückiger und seine Motorsäge. Die beiden sind ein Paar, seit er im zarten Alter von acht Jahren das erste Mal selber durfte. Seither weiss er, was er will: sägen. Aber nicht nur geradeaus wie im Wald, sondern um die Kurve, ja geradezu ums Eck, quer durch und hinten wieder hinaus, sodass nicht etwa ein glatter Schnitt entsteht, sondern das Gegenteil: ein überaus krummer Schnitt, in dessen Krummheit langsam ein Sinn zu erkennen ist, eine Figur, ein Gesicht, eine Stimmung.

Sägen ist sein Leben, sein Lebensunterhalt. Es bestimmt seinen Alltag, durchdringt diesen mit Benzin- und Holzduft. Kurz nach acht Uhr morgens erklingt sie, diese Fanfare der Holzlust im lauschigen Schaufelbühl ob Rüegsbach. Danach fräst sich Toni Flückiger stundenlang durch das Material, um daraus anmutige, filigrane und naturnahe Geschöpfe zu schälen. Kurz darauf werden sie abgeholt, in die ganze Schweiz verfrachtet, wo sie dann ein Leben im Kaminzimmer einer Villa, auf der Gartenterrasse eines Bauernhofes oder im Foyer einer Firma finden. Kubikmeterweise zerteilt oder modelliert Toni Flückiger das edle Material. Ganze Lastwagen voller Stämme sind es, die alsbald als Füchse, Bären oder Steinböcke das Emmental wieder verlassen, während ihr Erschaffer bereits am nächsten Strunk ist.

 

Flugo
Der Mann hinter all diesen Sägespänen ist faszinierend. Er selber nennt sich «Flugo», ein Künstlername, hergeleitet aus der Primarschulzeit in Wasen, als man ihn nicht Flückiger nannte, sondern eben Flugo. Aufgewachsen ist er auf einem Hof weit oben in den Sumiswalder Hügeln, auf 1100 Metern über Meer, wo es neben Wolken vor allem Gras, Kühe und eben Bäume gab. Kein Wunder, lenkte sich seine Aufmerksamkeit bald einmal auf diese urige Masse aus Zellulose, die da lautlos aus dem Boden drang und die ganze Landschaft bestimmte.

Seine Inspiration aber ist letztlich er selber. Und doch nennt er sich nicht vorbehaltlos einen Künstler. Er ist kein Erfinder von Nie-Dagewesenem. Ihm genügt es, wenn ein Adler aus dem Holz tritt, ihn beflügelt, beeindruckt, erhebt. Das ist es, was Flugo fordert und reizt. Es ist nicht die selbstverliebte Geste des Genies, die er sucht, sondern das Spiel mit dem Holz und letztlich sich selber. Denn egal, was er kreiert, es klingt etwas an, das es in ihm gibt. Der Hund, das Schaf, der Steinbock leben in ihm, sodass er sie nur noch suchen muss, irgendwo im Holz, herausgeschält mit groben Schnitten und alsbald auch feinen Kerben. Und je näher er ihnen kommt, diesen Geschöpfen, umso mehr spürt er sie, bis plötzlich Pferdeduft oder das Krähen des Greifvogels in ihm anklingt.

Hinter der Motorsäge steht ein ganz normaler Mensch – mit einer ausserordentlichen Begabung.

Vom Forstwart zum Motorsägenkünstler
Einmal den Sägestaub vom Leib gepustet, ist Toni Flückiger ein Mensch wie du und ich. Er gefällt sich in der Rolle des Machers, atmet Emmental durch und durch, auch wenn er sich bewusst ist, dass in seinem Wesen alles etwas anders tickt. Schon als Kind wusste er, was er werden wollte: Chefmaschinist an seiner Motorsäge. Um dies zu erreichen, wurde er Forstwart. Heute kann er ohne Anstellung leben, sägt sich quasi durchs Leben – und das mit gutem Schneid und Erfolg. Während er draussen zweitaktet, nimmt seine Frau die Telefonanrufe entgegen, um weitere Bestellungen für Igel, Hühner, Hunde und Rotmilane aufzunehmen. Wie in einem guten Lokal schiebt sie Flugo die Aufträge in die Holzküche, wo er virtuos am Zubereiten des nächsten Steinbocks ist.

Tritt man auf den Hof der Flückigers, ahnt man bereits die Wucht der Inspirationen, die Toni Flückiger dem Holz abringt oder aufzwingt. Es sind riesige Skulpturen mit strengen Augen, Totempfähle mit Flügeln oder ein einsamer Gitarrist von AC/DC. Fast hat man das Gefühl, dass bei Flugo alles zu Form wird, was sich ihm in den Weg stellt. Und es stimmt letztlich auch. Der Mann mit der sympathischen Ausstrahlung sorgt für seine eigenen Wege, denkt viel, sinniert viel und kommt zu seinen eigenen Schlüssen.

Für jeden Arbeitsschritt das passende Instrument: Flugo und seine Motorsägen harmonieren wunderbar.

Im Emmental verwurzelt
Spätestens hier muss man lernen, dass Motorsägen nicht abstumpfen, sondern geschärft werden können, wie der Verstand auch, der uns befähigt, über unser Leben und unsere Umwelt nachzudenken. Und dazu ist gerade das Emmental geeignet – oder vor allem das Emmental, weil man hier eine gesunde Distanz hat, weil man hier die Dinge anders sehen darf, vielschichtiger und gelegentlich auch weitsichtiger.

Toni Flückiger schmunzelt, als ich bewundernd seinen Sägewahn zu Papier zu bringen versuche. Gut und gerne fünf Skulpturen purzeln ihm täglich aus der Hand, während die Sonne über dem Schaufelbühl ihre Runde dreht. Sieben Füchse und zwei Hunde warten auf den Abtransport ins Züribiet. Und auch die Schafe sollen in den Osten. Zurück bleibt selten etwas, einen Showroom gibt es nicht, auch keine Öffnungszeiten. Flugo will vor allem arbeiten, am liebsten von früh bis spät.

 

Die geheime Leidenschaft
Und spät wird es oft, aber nicht mit der Säge. Auf dem Heuboden seines Bauernhauses, in das er eingeheiratet hat, befindet sich eine Werkstatt für delikate Musikinstrumente aus Holz und Metall: die Schwyzerörgeli. Dieses Relikt aus der Blütezeit der Volksmusik erfreut immer noch die Gemüter und hat eine Anhängerschaft, die weiter reicht als bis zu den Ländler-Romantikern oder Polka-Patrioten. Es ist ein Instrument, so verrät mir Flugo, das allerfeinste Nuancen der Stimmung und des Timbres zulässt, quasi eine Wünschelrute der Tonalität, abgestimmt auf eine musikalische Verliebtheit, eine Amour fou zwischen Mensch und Holz sozusagen.

Spätestens hier wird mir mulmig im allerbesten Sinn. Was genau treibt Toni Flückiger hier? Und vor allem wann? Bescheiden gibt er an, dass zwischen 19 Uhr und Mitternacht seine Örgeli-Zeit ist, in welcher er dem filigranen Instrument nachsinnt, es aus dünnen Flächen von Nadelgehölz herausarbeitet, verzahnt und verleimt, mit graziler Mechanik aus Metall verbindet, sodass am Schluss ein Gesamtkunstwerk aus Klang und Präzision resultiert, für welches inzwischen eine wachsende Fangemeinde Schlange steht bei ihm – und das bei Preisen, die weit über jenen seiner Skulpturen liegen.

All das ist mirakulös und gar etwas suspekt. Wie kommt einer dazu, dem Holz das Feine und das Grobe abzuringen, sich so tief ins Wesen des Gewachsenen hineinzubegeben, damit er am Schluss fähig wird, es zu seinen erstaunlichsten Eigenschaften zu führen, sei es als klingende Membran, sei es als grobe Textur im Gesicht eines mächtigen Strunks?

Als ich mich kraft der Gravitation auf meinem Velo wieder vom Schaufelbühl Richtung Rüegsau tragen lasse, bin ich nach wie vor innerlich erstaunt über diese Mischung aus Magie und Handwerk. Eine Geschichte bleibt mir: Kurz vor Mitternacht habe er ihn geschlagen, diesen Baum nahe bei Schangnau. Eine November-Neumondnacht sei es gewesen, und er habe gewusst, dass in diesem Holz etwas steckt, das Monate später zu erhabenem Klang in seinen Örgeli würde erweckt werden können.

Text: Paul Hasler

Bilder: Marco Meneghini

Flugo

 

Toni Flückiger alias Flugo betreibt ein Holzbild-haueratelier im Schaufelbühl oberhalb von Rüegsbach (Gemeinde Lützelflüh). Seine Werkstatt ist für die Produktion grosser Skulpturen ausgestattet, die er auf Bestellung fertigt. Einen eigentlichen Verkauf gibt es nicht, auch keine Öffnungszeiten. Alle Kontakte laufen über seine Frau, die auch die Bestellungen verwaltet.

Toni Flückiger bietet seine Fähigkeiten als Motorsägenkünstler auch live an, sei es für Firmenanlässe oder Gesellschaften. Dabei schafft er vor staunenden Augen eine Skulptur, die beim Besteller verbleibt und im Preis inbegriffen ist. Dank diesem als «Speedcarving» bekannten Metier kommt er in der ganzen Schweiz herum.

Neben den groben Spänen sind es auch die feinen, die ihn bewegen. Seine kleine Produktion von Schwyzerörgeli hat sich bei Kennern einen Namen gemacht, sodass die Wartezeiten für die kostbaren Instrumente inzwischen zwei Jahre betragen.

Toni Flückiger ist verheiratet, Vater zweier Kinder und mehrfacher Schweizermeister im Kettensägenschnitzen.

www.flugo.ch

Zu lesen in der Ausgabe #65