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«Ich flehe Sie an, lassen Sie uns mit den Bohnen nicht im Stich …»

Die Welt kennt Albert Schweitzer (1875 – 1965) als Urwaldarzt in Lambarene (Gabun/Afrika), als Theologen, Philosophen, Organisten, Schriftsteller, Atom-Kritiker und Friedensnobel-Preisträger. Der «homme de Gunsbach und citoyen du monde» hatte aber gerade auch zum Emmental und Kanton Bern einen ganz besonderen Bezug. Im Mai 1922, also vor genau hundert Jahren, besuchte er nicht weniger als zweiundzwanzig Gemeinden im Kanton Bern. Neun davon allein im Emmental.

Das Schriftwerk von Albert Schweitzer über seine biographischen, ethischen, kulturellen, theologischen, musikwissenschaftlichen und medizinischen Lebensbereiche und dazu die Sekundärliteratur über dieses Universalgenie des 20. Jahrhunderts füllen ganze Bücherregale. Im Oktober 1947 wurde er im US-Life Magazine als «Greatest man in the world» bezeichnet, und im Juli 1949 gelangte er gar auf die Titelseite des TIME-Magazins. Da mag es interessieren, welche speziellen Bezüge diese international bekannte Persönlichkeit zur Schweiz, zum Kanton Bern und insbesondere zur Region Emmental hatte. 

Albert Schweitzer wurde am 14. Januar 1975 in Kaysersberg im Elsass, das damals zu Deutschland gehörte, als Sohn in eine Pfarrersfamilie geboren. Dass es einen ersten Bezug zum Emmental und dessen damals bekanntesten Exponenten, den Dichter-Pfarrer aus Lützelflüh, Albert Bitzius – Jeremias Gotthelf – gab, geht aus der Schrift Albert Schweitzers, Aus meiner Kindheit und Jugendzeit hervor. Der junge Elsässer beschreibt dabei den «Büchergeruch» im Studierzimmer seines Vaters und berichtet, wie er nach und nach Verständnis für Geschichten seines Vaters erlangte, die von Dorforiginalen und dem Landleben im Elsass handelten. Dabei sei das literarische Vorbild seines Vaters «… Jeremias Gotthelf, der als Schriftsteller bekannte schweizerische Pfarrer …» gewesen. «… nur war mein Vater rücksichtsvoller als dieser. Er vermied es, die Leute, die ihm zu den Personen der Geschichten Modell gesessen hatten, so deutlich zu zeichnen, dass sie erkennbar waren …»

 

Entscheid für Afrika

Seine Studien schloss Schweitzer 1899 mit der Promotion zum Dr. phil. und 1902 mit jener zum Dr. theol. ab. Parallel dazu bildete er sich zum Organisten und als Theoretiker des Orgelbaus weiter. Als junger Akademiker verbrachte er von 1901 bis 1909 jeweils seine Sommerferien auf der Grimmialp im Diemtigtal. In diesem «entlegenen Tal der Schweiz» fand er Ruhe und Musse, sein epochales Werk über den Musiker Johann Sebastian Bach, als völlige Neubearbeitung seiner bereits auf französisch vorliegenden Monographie, in Deutsch entstehen zu lassen.

Aufgrund der Meinung der französischen Missionsgesellschaft in Paris, die ihn offenbar als zu liberalen Theologen eingestuft hatte, konnte er vorerst nicht als Missionar nach Afrika reisen. Da er sich aber schon an Pfingsten 1896 in einem Brief an seine Familie und Freunde äusserte, dass er sich nach dem dreissigsten Lebensjahr einem Beruf menschlichen Dienens zuwenden und die akademische Laufbahn ablegen wolle, entschied er sich 1905, noch ein Medizinstudium aufzunehmen. «Arzt wollte ich werden, um ohne irgendein Reden wirken zu können!» Am 3. Dezember 1910 schloss er sein Studium mit dem Staatsexamen ab. 1912 heiratete er seine langjährige Freundin, Helene Bresslau, die sich zwischenzeitlich auch noch zur Krankenschwester ausbildete. Kurz nach seiner Promotion zum Dr. med. anfangs März 1913 verliessen die beiden am 21. März 1913 ihre Heimat in Günsbach im Elsass und erreichten am 16. April ihren neuen Wirkungsort in Lambarene in der damaligen französischen Kolonie Äquatorial Afrika, dem seit 1961 selbständigen Staat Gabun. Den beiden bleib wenig Zeit für den Aufbau des «Urwaldspitals» auf dem Gelände der französischen Mission, denn mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 galten die Deutsch-Elsässer in der französischen Kolonie als Feinde. Ihre medizinische Arbeit wurde stark eingeschränkt, und 1917 wurden sie gar als Internierte nach Südfrankreich deportiert. 1918 erfolgte die Freilassung und Rückreise über die Schweiz zurück ins Elsass, belastet mit grossen Schulden und gesundheitlichen Problemen. Der Gedanke und Wille, Menschen in noch grösserer Not zu helfen, blieb aber wach.

 

Das bekannte Zitat «Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will», wie es im Albert-Schweitzer Zentrum in Weimar zu sehen ist

Kröschenbrunnen und Afrika

Das Wirken im Urwald und der Name Lambarene – der sich mit «Wir wollen es versuchen» in unsere Sprache übersetzen lässt – verbreitete sich nach dem Ersten Weltkrieg rasch, und Schweitzer bekam eine Einladung vom schwedischen Erzbischof Söderblom zu Vorlesungen und Orgelkonzerten in Schweden. Der Erlös reichte zur Tilgung der Schulden und ermunterte Schweitzer zur Niederschrift seiner gemachten Erfahrungen, die er 1920 unter dem Namen Zwischen Wasser und Urwald im Verlag Paul Haupt in Bern erstmals veröffentlichte. Diese Schrift verbreitete sich in Windeseile und war Basis für den Aufbau eines internationalen Netzwerkes, das seinesgleichen sucht.

In Kröschenbrunnen bei Trubschachen unterrichtete damals die junge Lehrerin Anna Joss. Alt Bundesrat F.T. Wahlen charakterisiert sie im Vorwort des Buches Albert Schweitzer im Emmental «… mit einem Blick, der weit über die Hügel, Täler und Gräben ihrer Heimat hinausreichte …» Ihre Einladung an den «Urwalddoktor» fand Gehör und die Freude in Kröschenbrunnen, dem Emmental und im Kanton Bern waren riesig, als es im Mai 1922 zu den persönlichen Kontakten mit Vorträgen und Orgelkonzerten kam:

• Aarwangen (29.5.)

• Biel (10.5.)

• Burgdorf (4.5.)

• Frutigen (30.5.)

• Herzogenbuchsee (3.5.)

• Huttwil (15.5)

• Konolfingen-Stalden (14.5.)

• Langenthal (31.5.)

• Langnau (22.5.)

• Lützelflüh (16.5.)

• Münsingen (19.5.)

• Oberdiessbach (14.5.)

• Schwarzenburg (12.5.)

• Steffisburg (21.5.)

• Spiez (20.5.)

• Thun (18.5.)

• Trubschachen (21.5.)

• Worb (17.5.)

Bis 1957, zu seinem letzten Aufenthalt in Europa, hielt Schweitzer in gegen neunzig Orten in der Schweiz Vorträge, Orgelkonzerte und Predigten. Im Nachlass von Anna Joss kamen über dreihundert Schriftstücke zum Vorschein, die die über vierzig Jahre andauernde Verbindung mit Albert Schweitzer und vielen seiner Mitarbeiter dokumentieren.

Nebst all den Strickwaren und weiteren Hilfsgütern waren insbesondere die legendären Dörrbohnen, Landjäger und Kambly-Biskuits sehr willkommen und wurden während Jahren am Samstagabend unter dem Namen «Repas Suisse» mit wohl etwas Wehmut nach Europa genossen. Als einmal eine Mitarbeiterin Schweitzers Anna Joss schrieb, sie solle weniger Bohnen senden, kam postwendend die Antwort des Urwalddoktors nach Kröschenbrunnen: «… also, ich flehe Sie an, lassen Sie uns mit den Bohnen nicht im Stich. Je mehr desto besser. Sagen Sie niemand nichts von dem Brief von Fräulein Mathilde, er ist wirklich absolut gegenstandlos. Ach, dieses Dazwischenreden von anderen. Aber glauben Sie mir, ich weiss was Recht ist. Ach, wie freuen wir uns auf die Suppe mit Maggi Würfeln, Karotten und Bohnen …» Aus dem umfangreichen Briefwechsel zwischen Anna Joss und Albert Schweitzer sticht ein Satz heraus, der die enorme Freiwilligenarbeit und Solidarität ungezählter Menschen unseres Landes nicht besser würdigen könnte. Schweitzer hält in einem Brief nach Kröschenbrunnen fest: «Was würde mein Spital, wenn ich nicht auf die Hilfe aus der Schweiz zählen könnte!» (*)

 

Eine Welt ohne Atomrüstung

Auch wenn das Spital in Lambarene nach weit über hundert Jahren immer noch wertvolle Dienste an Menschen im tiefen Urwald sicherstellt, ist die Frage, ob denn vom Werk Albert Schweitzers heute noch etwas aktuell sei, sicher berechtigt. Sie kann unter anderem mit zwei Aspekten unmissverständlich beantwortet werden, die im Zentrum unseres Alltages präsenter sind denn je:

Anfangs 2022 sorgte wieder einmal eine Meldung über die Atomrüstung in den internationalen Medien für Schlagzeilen. Die fünf Mitgliedstaaten des UNO-Sicherheitsrates – USA, Russland, China, Frankreich und Grossbritannien – haben sich verpflichtet, gemeinsam «die weitere Verbreitung» von Atomwaffen zu verhindern. Sie betonen in dieser Erklärung, dass ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann und niemals geführt werden darf. Da muss wieder einmal mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, dass Albert Schweitzer zur Zeit des Kalten Krieges und der Höchstspannung zwischen den USA und Russland bereits am 23. April 1957 über Radio Oslo seinen ernsthaften und deutlichen Appell gegen die Atomrüstung gerichtet hat: «In der Situation, in der wir uns befinden, kommt es nicht auf interessante Symbole an, sondern dass wir das Maul aufreissen und die Welt mit unserem Geschrei gegen die Schweinerei der A-Versuchsexplosionen erfüllen …»  Diese scharfen Worte an das Weltgewissen, dass Atomwaffen unchristlich, unmenschlich und völkerrechtswidrig seien,  führten unter anderem dazu, dass Spendengelder aus den USA stark zurückgingen. Das hinderte Schweitzer nicht, bereits am 28., 29. und 30. April 1958 drei weitere Radioansprachen über «Die Gefahr eines Atomkrieges» auszustrahlen. Da bleibt bloss die hypothetische Frage: Wie sähe die Welt heute aus, wenn die Gewaltigen der Welt damals die weisen, vorausschauenden Forderungen Schweitzers umgesetzt hätten?

Albert Schweitzer und Anna Joss auf der Treppe. Die beiden pflegten über Jahre eine enge Brieffreundschaft.

Ehrfurcht vor dem Leben

Um unsere heutige Umgangssprache zu verstehen, muss man wissen was Job, Event, Facebook, Highlight und all die weiteren Anglizismen bedeuten. Was das schöne, deutsche Wort «Ehrfurcht» bedeutet, tönt wie ein Nostalgie-Begriff aus fernen Zeiten. Aber gerade in den aktuellen Diskussionen um Migrationsströme, Klimawandel, Umweltschäden mit Plastikbergen noch und noch, oder mit Plakaten am Wegrand nicht nur über Emmentaler Hügel hinweg mit dem Aufschrei einer karikierten Kuh «Ich fresse lieber Gras – als Ihren Abfall» sollte diesem Wort, das im Brockhaus mit «höchster Wertschätzung» erklärt und dem Hinweis auf Albert Schweitzers «Ehrfurcht vor dem Leben» als Grundprinzip des Sittlichen vermerkt wird, wieder mehr Bedeutung zukommen. Albert Schweitzer fand diesen Begriff 1915, der fortan zu seinem Lebensmotto wurde, nach langem Nachdenken über den Verfall und Wiederaufbau der Kultur und Ethik. Er hat seine Ehrfurcht vor dem Leben, bei dem es nicht nur um das Zwischenmenschliche im Alltag von Mensch zu Mensch, von Volk zu Volk schlechthin geht, verstanden. Er hat auch die Verantwortung gegenüber der Natur und Tierwelt eingeschlossen und prä-
zisiert: «Ich bin Leben, das leben will inmitten von Leben, das leben will.» Sind wir mit dieser Aussage nicht mitten im Alltag des Jahres 2022 angelangt, wenn wir beispielsweise in den engagierten Diskussionen rund um Corona, Klimawandel, Food-Waste und vielem mehr von Selbstverantwortung sprechen, aber letztlich doch dem eigenen Egoismus huldigen?

Wie am Anfang dieses Berichtes erwähnt, hatte Albert Schweitzer schon in seinen Jugendjahren Kenntnis des grossen Emmentalers und Pfarrkollegen Albert Bitzius/Jeremias Gotthelf. Dieser formulierte den Gedanken der Selbstverantwortung gegenüber der Mitwelt mit ebenso klaren und unmissverständlichen Worten: «Im Hause muss beginnen, was leuchten soll im Vaterland!» Gotthelfs Werk fand Eingang in die Weltliteratur – Schweitzers Werk wurde mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Höchste Zeit, sich wieder vermehrt mit beiden Lebenswerken zu befassen. 2022 bietet Gelegenheiten genug dazu: Der 225. Geburtstag Gotthelfs und 100 Jahre Besuche Schweitzers im Emmental.

Text: Fritz von Gunten

Bilder: Zvg.

Zu lesen in der Ausgabe #55