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Rothirsch – die Rückkehr ist noch im Gang

Das Berner Justistal ist bekannt für die Brunft der Rothirsche. Im Tal zwischen Sigriswiler Rothorn und Gemmenalphorn versammeln sich im September und Oktober jeweils hunderte von Hirschen, und das Röhren der männlichen Tiere hallt durch das Tal. Eine Hirschbrunft gibt es aber auch im oberen Emmental, wie Fritz Dürig sagt: «Seit etwa fünf Jahren findet im Gebiet Schangnau, Röthenbach und Eggiwil eine richtige Brunft statt.» Der Wildhüter betreut ein Gebiet, das sich vom Schangnau bis zur Aare bei Wichtrach und Kiesen erstreckt.

Die Ausbreitung des Rothirschs im Emmental und im gesamten Kanton Bern ist immer noch im Gang, die Bestandeszahlen steigen Jahr für Jahr deutlich an. Gemäss Statistiken der Berner Jagdverwaltung haben sich die Hirsche in den letzten vier bis fünf Jahren nahezu verdoppelt. Die Rückkehr des grossen Huftiers hat vor rund sechzig Jahren begonnen, als die ersten Hirsche über den Brünig ins Berner Oberland einwanderten. Diese Nachkommen von österreichischen Hirschen – war doch der Rothirsch vor 150 Jahren schweizweit ausgestorben – besiedelten lange nur das östliche Berner Oberland. Im Emmental wurden früher nur Einzeltiere registriert, doch mittlerweile sind Hirschrudel mancherorts ein normaler Anblick. In Frühlingseinständen im Schangnau hat Fritz Dürig schon bis zu sechzig Tiere gezählt.

 

Weitwanderer stösst an Grenzen

Gegen den Sommer hin lösen sich die Rudel oft wieder auf. Einige Tiere ziehen weiter, etwa Richtung Kiesen oder Heimberg. «Der Hirsch ist ein unheimlich guter Wanderer», so Dürig. Bevorzugte Hirsch-Lebensräume sind Flusstäler und Auen, möglicherweise zieht es die Tiere deshalb an die Aare. Die Berge besiedelten sie ursprünglich wohl eher als Rückzugsgebiet vor den Menschen. Zudem nehmen sie an feuchten Vertiefungen gerne ein Schlammbad, in der Fachsprache: Sie «suhlen» sich. Leider steht den Hirschen im Aaretal die Autobahn im Weg, eine Wildtierunterquerung bei Kiesen ist jedoch im Bau. 

 

Grösstes einheimisches Wildtier

In der Ernährung ist der Hirsch ziemlich anspruchslos. Gräser, Kräuter, Blätter und Baumtriebe verzehrt er ebenso wie Rinde, Moose aber auch Eicheln und Buchnüsse. Ganz anders das Reh, dieses frisst als Feinschmecker bevorzugt leichtverdauliche Triebe und Knospen. Ausserdem frisst der Hirsch um ein Vielfaches mehr – zwischen acht und zwanzig Kilogramm Grünes täglich. Ein ausgewachsener Stier* kann über 200 Kilogramm wiegen (durchschnittlich 120 – 160 Kilogramm) und ist somit rund achtmal schwerer als ein Reh. Die Kühe sind allerdings mit 90 – 130 Kilogramm deutlich leichter und zierlicher. Der Rothirsch ist somit das grösste Wildtier der Schweiz, nur ein ausgewachsener Braunbär erreicht möglicherweise die Gewichtsklasse eines starken Hirschstiers.

Ein erhebliches Zusatzgewicht schleppen vor allem ältere Stiere in Form des Geweihs herum. Dieses wird jedes Jahr zwischen Februar und April abgeworfen und in den folgenden Monaten neu aufgebaut – bis zum Alter von etwa zwölf Jahren jeweils mächtiger als im Vorjahr. Diese Krone sowie seine Grösse rechtfertigen den Namen «König der Wälder».

Im Gegensatz zum Reh sind Hirsche meist in Rudeln unterwegs. Dabei bleiben die Stiere unter sich, während Hirschkühe mit den Kälbern sowie evtl. noch den Jungtieren aus dem letzten Jahr eine Gruppe bilden. Eine besondere Rolle spielt die Leitkuh: Sie führt das Rudel an und gibt Erfahrungen zu Wanderrouten, Futterstellen, Gefahrenquellen an die jüngeren Tiere weiter. Die Sonderstellung dieser älteren Hirschkuh scheint begründet zu sein: Eine kanadische Studie ergab, dass Hirschkühe ab neun Jahren im Umgang mit Jägern so clevere Versteck- und Fluchtstrategien entwickelt haben, dass sie ab diesem Alter kaum mehr erlegt werden.

*Die Bezeichnungen für Männchen, Weibchen und Jungtiere sind gleich wie bei unseren Hausrindern: Stier, Kuh, Kalb.

Hirsche im Rapsfeld

Trotz ihrer Grösse lassen sich Hirsche weniger leicht beobachten als etwa der Steinbock. Hirsche reagieren nämlich empfindlich auf menschliche Störungen. Die Auswertung von Daten besenderter Tiere im Mittelland ergab bevorzugte Ruheplätze in dichtem, nicht einsehbarem Unterholz im Wald, erstaunlicherweise aber auch in Landwirtschaftskulturen wie Mais- und Rapsfelder. Dort waren die Tiere wohl noch ungestörter als im Wald, denn Jogger oder Hundebesitzerinnen betreten kaum ein Maisfeld. Und nähert sich doch ein Mensch, nimmt ihn der Hirsch meist schon von weitem wahr – dank hochentwickeltem Geruchssinn.

 

Der Wolf folgt dem Hirsch

Gefahr droht dem Hirsch nicht nur vom Menschen, der ihn schon vor Urzeiten bejagt hat und heute noch bejagt: 2020 wurden im Kanton Bern mehr als 700 Hirsche erlegt. Sein natürlicher Gegenspieler ist seit jeher der Wolf, der in seiner Lebensweise Ähnlichkeiten zum Hirsch zeigt: Beide leben in Rudeln und sind ausdauernde Läufer. Gute Hirschbestände ziehen Wölfe an, die sich zurzeit in der Schweiz ebenfalls stark ausbreiten. «Dem Hirsch folgt der Wolf», sagt ein polnisches Sprichwort, das sich möglicherweise im oberen Emmental bewahrheitet: Seit 2017 ist das Wolfsmännchen M76 in einem grossen Streifgebiet zwischen oberem Emmental und Entlebuch unterwegs.
«Zur Hauptsache ernährt sich M76 von Hirschen», sagt Fritz Dürig.

Ruhe im Wald – weniger Verbiss

Nicht alle freuen sich über die starke Ausbreitung des Rothirschs: Waldbesitzer und Förster fürchten teilweise seinen Appetit: Besonders im Winter frisst er vermehrt Triebe von jungen Tannen oder schält ältere Bäume. Doch nicht nur Bejagung oder Wolf helfen, die Schäden klein zu halten. Ebenso wichtig ist ein störungsfreier Lebensraum. Im Winter richtet der Rothirsch nämlich seinen Stoffwechsel auf Energiesparen aus: Das Herz schlägt langsamer, und verschiedene Organe verkleinern sich. Besonders in kalten Winternächten wird auch die Temperatur der Beine sowie der äusseren Teile des Rumpfs gesenkt. Wird der Hirsch jedoch aus dieser Winterruhe aufgeschreckt, fährt der Stoffwechsel in Kürze hoch – mit immensem Nahrungsbedarf. Störungsfreie Wintereinstände sind deshalb auch für den Schutz vor übermässigem Verbiss wichtig.

Streifzüge abseits der Wege sind zwar ausserhalb von
Wildruhezonen nicht verboten, führen aber oft durch das «Wohnzimmer» von Hirsch und anderen Wildtieren. Fritz Dürig und seine Berufskollegen appellieren an Schneeschuhwanderer, Hundebesitzerinnen etc., Rücksicht zu nehmen. Ohne gesetzliche Regelungen geht es aber nicht: «Neue Wildruhezonen sind in Planung.» Wer im Emmental Hirsche beobachten möchte, ohne die Geweihträger zu stören, sucht im Frühling die sonnseitigen Hänge im Raum Schangnau, Marbach, Eggiwil, Röthenbach ab. Hier sind die Chancen relativ gross, Hirsche beim Weiden zu entdecken.

*Die Bezeichnungen für Männchen, Weibchen und Jungtiere sind gleich wie bei unseren Hausrindern: Stier, Kuh, Kalb.

Text: Thomas Neuenschwander

Bilder: Hanspeter Inniger

Zu lesen in der Ausgabe #54